Geschichte des Verbands der Ruhrknappschaftsärzte e.V. Bochum
Die Frühgeschichte
Die Anfänge des Knappschaftswesens an der Ruhr liegen über 200 Jahre zurück. 1770 wurde auf Initiative Friedrichs des Großen der Märkische Knappschaftsverein in Bochum gegründet, aus dem durch die Verschmelzung mit dem Essen-Werdenschen und dem Mülheimer Knappschaftsverein am 1. Juli 1890 der Allgemeine Knappschaftsverein – der Vorläufer der Ruhrknappschaft (1924) – mit dem Sitz in Bochum entstand.
Die Geschichte der Knappschaft ist auch die Geschichte des Knappschaftsarztes; der „Bergarzt“ (Bergmedikus) und der „Knappschaftschirurg“ waren von der ersten Stunde an dabei. Das ergibt sich aus dem knappschaftlichen Etat für das Jahr 1770/71, der – bei einem Volumen von 1.565 Thl. 25 1/2 Stüber – an Ausgaben für den Bergmedikus 75 Thaler und für die Knappschafts-Chirurgen a 60 Thl. = 250 Thl. Ausweist.
1788 änderte sich die Honorierung. Die Berg-Chirurgen erhielten pro Kopf der zu betreuenden Bergarbeiter und Jahr einen Thaler. Aus diesem Betrag mussten sie allerdings die Ausgaben für Arzneien bestreiten.
1792 bestellte das Oberbergamt in Wetter a. d. Ruhr als zuständige Aufsichtsbehörde zwei neue Bergärzte, und zwar Dr. C. A. Kortum in Bochum zum Bergarzt nördlich der Ruhr und Dr. Probsting in Bochum zum Bergarzt südlich der Ruhr. Anläßlich dieses wichtigen Ereignisses gab das Oberbergamt ein „Instruction“ heraus, die die Pflichten der Bergärzte und Bergwundärzte (Knappschafts-Chirugen) regelte. Nach dieser Instruction oblag die ärztliche Versorgung primär den Berg-Chirurgen (nicht akademisch ausgebildete Heilkundige) unter der Aufsicht der – akademisch voll ausgebildeten – Bergärzte, die praktisch als Oberärzte fungierten. Stellte der Berg-Chirurg bei der Behandlung fest, dass es sich lediglich um eine "gewöhnliche Beschädigung" oder um eine geringfügige innere Erkrankung handelte, konnte er die Behandlung selbstständig durchführen. Handelte es sich aber um eine "schwere äußere Beschädigung" oder um eine schwerwiegende innere Erkrankung, hatte er sofort den Bergarzt mündlich oder schriftlich hinzuzuziehen, nach dessen Weisungen die Behandlung dann durchzuführen war. Einmal im Monat musste der Berg-Chirurg seinen „District“ bereisen, vornehmlich die darin gelegenen Zechen, um auf diese Weise zu erfahren, ob Bergleute seines Rates oder seiner Hilfe bedurften.
Geregelt war in der Instruction auch die Vertretung der Berg-Chirurgen untereinander und die Verpflichtung zur Assistenz oder zur Hilfeleistung, wenn der zuständige Berg-Chirurg nicht erreichbar war. Honorarmäßig hatten sie sich "gütlichst zu arrangieren". In Notfällen konnte auch ein "nicht zur Knappschaft gehörender Chirugus" in Anspruch genommen werden, allerdings nur zur einmaligen Behandlung; es sei denn, der hierüber zu verständigende zuständige Berg-Chirurg fand sich nicht gleich zur Weiterbehandlung ein. In diesem Falle konnte die Behandlung von dem fremden Chirurgen auf Kosten des Berg-Chirurgen fortgeführt werden. Beschränkte sich dagegen die Inanspruchnahme des fremden Chirurgen aus „Eigensinn“ nicht auf die einmalige Behandlung, übernahm die Knappschaftskasse nicht die Kosten.
Die Bergärzte hatten die Aufsicht über die in ihrem District tätigen Berg-Chirurgen und diesen jederzeit zur Beratung und Verfügung zu stehen. Die Bergleute konnten aber auch direkt die Bergärzte konsultieren. Arzneiverordnungen sollten jedoch nur in dringenden Fällen ohne Wissen des Berg-Chirurgen ausgestellt werden, weil die Kosten zu dessen Lasten gingen. Auch sollte der Bergarzt aus diesem Grunde die "wohlfeilsten" Medikamente verschreiben. Zu Hausbesuchen war der Bergarzt nur in dringesden Fällen selbst verpflichtet.
Die neuverpflichteten Bergärzte Dr. C. A. Kortum und Dr. Probsting erhielten als Vergütung jährlich 50 Goldmünzen Berliner Courant = 250 Thaler.
Darüber hinaus wurde den Bergärzten in der Instruction zugesagt, dass sich das Bergamt auf Anfordern bei Hofe dafür verwenden werde, dass Ihnen das Tragen der Berguniform zugestanden werde.
Die Berg-Chirurgen hatten über die durchgeführten Behandlungen sowie die verordneten Medikamente nach vorgeschriebnen Schema einen Krankenrapport zu fertigen, von dem eine Abschrift dem Bergarzt und eine der Generalversammlung vorzulegen war. Der Bergarzt hatte den "quartaliter" ihm zugehenden Rapport genau durchzusehen.
Die Generalversammlung fand im Frühjahr und Herbst eines jeden Jahres statt. Die Einladung an die Bergleute hierzu erging von den Kanzeln. Vor einem Mitglied des Bergamtes unter Zuziehung der Bergärzte und in Anwesenheit des Berg-Chirurgen hatten die Bergleute in der Generalversammlung Gelegenheit, ihre Beschwerden über den Chirurgen vorzutragen. Bei der zweiten „Generalrecherche“ im Herbst wurde über die Vertragsverlängerung des Berg-Chirurgen für das folgende Jahr befunden. Dabei hatte derjenige Chirurg, welcher seine Pflicht erfüllt, zu erwarten, "dass die Knappschaft auf ihn vorzüglich reflektiere und er auch gegen unbegründete Aufwiegelungen der Bergleute in Schutz genommen werde".
Durch die Abschaffung der verschiedenen Klassen von Heilkundigen zuerst 1852 in Preußen, fiel der Unterschied zwischen Arzt und Chirurgen bzw. Wundarzt fort. Die in der ärztlichen Versorgung der Bergbaubevölkerung tätigen Ärzte wurden fortan als Knappschaftsärzte, bzw. später, soweit sie fachärztlich tätig waren, als Knappschafts-Fachärzte bezeichnet. Beim Märkischen Knappschaftsverein wurden bereits ab 1840 nur noch staatlich geprüfte Ärzte zugelassen.
Einer der ersten Bergärzte an der Ruhr (von 1792 – 1824) war, wie bereits erwähnt, Dr. Carl Arnold Kortum, „königl. Hofrath“, Arzt und Dichter in Bochum („Jobsiade“). Es fällt auf, dass er als Bergarzt nicht zu Fragen der Bergbaumedizin Stellung genommen hat. Das überließ er seinem Sohn Dr. Johann Carl Arnold Kortum, der – ebenfalls Bergarzt – mit seinem Vater gemeinsam praktiziert und bereits vor seinem Vater starb. Von ihm erschien 1798 das
"Gesundheitsbüchlein für Bergleute",
das damals allen Bergleuten kostenlos zugestellt wurde. Es enthält eine Anleitung zur Pflege in gesunden und kranken Tagen im damaligen Verständnis und entlockt dem heutigen Leser ein Schmunzeln, wenn dort z. B. als Erste-Hilfe-Leistung für Ertrunkene empfohlen wird:
"Man stecke auch den mit Oel bestrichenen Stiel einer Tobakspfeife in den Mastdarm des Verunglückten und ein anderer Rauchender, blase den Rauch durch die die im Mastdarm steckende Pfeife in den Leib. Oder man zünde zwei gestopfte Tobakspfeifen an, halte die Köpfe derselben auf einander und stecke den Stiel der einen Pfeife in den Mastdarm, aber durch die andere Pfeife blase man den Rauch häufig ein."
Im übrigen war Dr. Kortum aber weder dem „Tobak“ noch dem „Brandwein“ zugetan; machte doch das übermäßige Tobakrauchen das Gehirn stumpf und beraubte den Körper seiner nützlichen Säfte. "Der Brandwein, welchen der gemeine Mann als Stärkungsmittel bei seiner Arbeit ansieht, wird ihm kurz oder lang zu seinem Gifte. Er rafft viele Leute weg, selbst wenn er auch nicht ebenübermäßig genossen wird; besonders, wenn gar sich junge Leute schändlich an demselben gewöhnen... Höchst schädlich ist derselbe auch, wenn er, wie gewöhnlich geschieht, nach einem erlittenen Schrecken getrunken wird. Denn durch den Schrecken wird das Gebluet aus den äußeren Theilen des Körpers nach dem innern getrieben...".
Es zeigt sich im "Gesundheitsbüchlein für Bergleute" aber auch ein Charakeristikum des Knappschaftsarztsystems, nämlich die Hinwendung zu typischen Berufskrankheiten der Bergleute, wenn es in einem Artikel heißt:
"Der Bergmann ist manchen plötzlichen Ueberfällen ausgesetzt, welch zum Theil selbst Krankheiten, zum Theil Ursachen anderer Krankheiten, ja des Todes sind. Die vornehmsten sind:
- Das Ertrinken im Wasser
- Der Ersticken im bösen Wetter
- Die Ohnmachten
- Die Epilepsie, oder fallende Sucht
- Der Schlagfluß
- Die Blutstuerzungen."
Zeitgenossen des Bergarztes und Jobsiadendichters Dr. C. A. Kortum waren Freiherr von Stein, der am 17. Februar 1784 im Alter von 24 Jahren zum Direktor des Märkischen Bergamts berufen wurde, und Theodor Körner (1791-1813), der das „Berglied“ schrieb.
Aus dem "Berglied":
Und bricht einst der große Lohntag an,
Und des Lebens Schicht ist verfahren:
Dann schwingt sich der Geist
Aus der Tiefe hinan
Aus dem Dunkel der Schächte
Zum Klaren,
Und die Knappschaft des Himmels
Nimmt ihn auf
Und empfängt ihn jauchzend:
Glückauf! Glückauf!
Um 1800 waren vier Ärzte tätig, im Jahre 1840 fünf Ärzte und sieben Chirurgen (Bergwundärzte); erstere erhielten 1 Taler pro Jahr und Kopf der zu betreuenden Bergleute, letztere jährlich 60 Taler nebst 100 Taler Pflegegelder.
1840 wurde der gesamte Bezirk des Märkischen Knappschaftsvereins in Sprengel – anfänglich 14 – eingeteilt, in denen je ein Arzt „gegen die Remuneration von 20 Silbergroschen pro Jahr und Kopf“ angestellt war.
Ab 1. Januar 1858 gab es beim Märkischen Knappschaftsverein bereits 27 Knappschaftsärzte. Jeder Knappschaftsarzt war für einen "Kurbezirk" zuständig, der eine für heutige Verhältnisse kaum vorstellbare räumliche Ausdehnung hatte. So umfasste z. B. ein Kurbezirk
- Gemeinde Gelsenkirchen
- Gemeinde Schalke
- Gemeinde Hessler
- Gemeinde Braubauerschaft
- Gemeinde Bickern
- Gemeinde Röhlinghausen
- Gemeinde Hüllen
- Gemeinde Bulmke
- Von dem Bezirke des Kgl. Bergamtes zu Essen derjenige Theil, welcher nördlich des Weges vom Hause Achternberg über den Hof des Schulte-Grimberg nach Wattenscheid liegt.
- Sämtliche Ortschaften nördlich des Bergamts-Bezirks Bochum, welche westlich der Chaussee von Crange nach Dorsten liegen.
Gelsenkirchen war damals ein Dorf mit 800 Menschen; von den 380 Häusern Bochums sollen zu dieser Zeit noch 135 mit Stroh gedeckt gewesen sein. Die Ruhrlandschaft wurde als anmutig ländlich beschrieben mit friedvoll gelegenen Dörfern inmitten üppiger Wiesen und belaubte Haine. Auf den 144 Gruben des Märkischen Knappschaftsvereins waren im Jahre 1792 1.357 Arbeiter beschäftigt; auf jeder Zeche also 9 Mann.
Der erste Spezialarzt, ein Düsseldorfer Augenarzt, wurde im Jahre 1862 vertraglich zugelassen.
1887 wurden beim Märkischen Knappschaftsverein ständige Kommissionen eingerichtet; für die Regelung der Kurbezirksangelegenheiten der „Kurausschuß“.
Zu Beginn des Jahres 1896, also 6 Jahre nach dem Zusammenschluß des Märkischen- Essen-Werdenschen- und Mülheimer Knappschaftsvereins zum Allgemeinen Knappschaftsverein mit dem Sitz in Bochum, gab es 157 Knappschaftsärzte (Revierärzte) und 15 Fachärzte für Chirurgie. Augen-, Ohren- und Hautkrankheiten. Insgesamt waren im rheinisch-westfälischen Kohlenrevier 532 Ärzte – davon also 172 Knappschaftsärzte – niedergelassen.
Die Durchschnittsmitgliederzahl eines Kurbezirks sollte "bestimmungsgemäß" 1.200 Köpfe betragen. Einzelne Kurbezirke zählten über 2.000 Mitglieder. Erhielten die ersten Bergärzte und Bergchirurgen noch ein Jahresgehalt von 75 bzw. 60 Talern, wurden z. Z. des Allgemeinen Knappschaftsvereins Kopfpauschalen gezahlt. Das Kopfpauschale betrug 2,50 MK pro Mitglied jährlich. In kleineren Kurbezirken "und in solchen mit schwierigen äußeren Verhältnissen, wie in Gebirgsgegenden usw., sind erhöhte Honorare bis zu 3 MK. 3 1/2 MK, ja bis zu 4 1/2 MK bewilligt.
Diese Art der Honorierung wurde bis Ende 1969 gehalten!
Es fanden für die Festsetzung der Honorare zweimal im Jahr Mitgliederzählungen statt, Gezählt wurden für jeden Knappschaftsarzt die in seinem Kurbezirk wohnenden Mitglieder unter Verrechnung derjenigen Mitglieder, die sich zu einem andern Knappschaftsarzt umgemeldet hatten. Nach §16 des Statuts des Allgemeinen Knappschaftsvereins bestand die Möglichkeit der Ummeldung innerhalb eines Umkreises von 4 km. Die Ummeldemöglichkeit war eine Konzession des Knappschaftsvorstandes, die er ab 1. April 1887 einführte, um die Wünsche der Mitglieder nach freier Arztwahl zu entschärfen. Sie verstummten auch später nicht. Tenholt bewertete sie 1897 als "Agitationen". Er warnte vor den Kostenauswirkungen und erinnerte daran, dass die "Stelle als Knappschaftsarzt für ehrenvoll und begehrenswerth für alle Ärzte" galt; "die tüchtigsten und angesehendsten, auch die Kreismedizinalbeamten oder die mit sonstigen öffentlichen Ämtern bekleideten Ärzte haben es nicht verschmäht, in die Reihe der Knappschaftsärzte einzutreten." Tenholt kommt zu der kategorischen Erklärung:
"Die Einführung der freien Ärztewahl ist aus medizinisch-technischen, aus finanziellen und aus moralischen Gründen für den AKV unzulässig.“
Bestätigt findet er sich hierbei in der geringen Ummeldequote, die 1895 2,65% betrug. Als Beweis für das Vertrauen der Bergleute zu ihren Knappschaftsarzt führte er an, dass sich der beschwerdeführende Bergmann in den Schiedsgerichtssitzungen oft auf den Revierarzt berief, "der ihn doch am besten kennen müsse".